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Begriff Schrift

Schrift

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht Dienstag, 15. November 2016
  • Zuletzt bearbeitet Montag, 17. Februar 2020

Zum Wort

Dem deutschen Wort Schrift, von lateinisch scribere, entspricht im Englischen die nominalisierte Verbform writing, während das Substantiv script im Englischen in erster Linie auf Schrifterzeugnisse abzielt. Ursprünge sowohl des englischen als auch des lateinischen und griechischen (graphein) Verbs liegen in Vorgängen des Einritzens und Einzeichnens.

Diskurse und Kontexte

1. Phonographisches Paradigma des sprachwissenschaftlichen Diskurses

Im phonographischen Paradigma des sprachwissenschaftlichen Diskurses gilt Schrift als Notation von gesprochener Sprache. Gemäß dieser Auffassung wird Schrift, erstens, ausschließlich auf Sprache im engeren Sinn bezogen und, zweitens, ihr als deren medialer Verkörperung nachgeordnet. Bereits Ferdinand DE SAUSSURE (1916) hatte postuliert: „Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen.“ (28) Entsprechend heißt es im Handbuch Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use: Schrift ist „die Menge der graphischen Zeichen, mit denen die gesprochene Sprache festgehalten wird.“ (VIII) Und im Lexikon der Sprachwissenschaft lautet die Definition: „Schrift. Auf konventionalisiertem System von graphischen Zeichen basierendes Mittel zur Aufzeichnung mündlicher Sprache“ (608).

Quellen
  • BUßMANN, Hadumod. „Schrift“. In: DERS. Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart 2008.
  • DE SAUSSURE, Ferdinand. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967 (franz. zuerst 1916).
  • GÜNTHER, Hartmut, und LUDWIG, Otto, (Hrsgg.). Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Berlin/New York 1994.
  • HAARMANN, Harald. Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt u. a. 1991.
  • Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59 (1985), Themenheft ‚Schriftlichkeit’. Hrsg. v. Wolfgang KLEIN.

2. Medientheoretischer Diskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Ausgangspunkt eines medientheoretischen Diskurses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die (seitdem umstrittene) These von der Sonderstellung der Alphabetschrift. Die Toronto-Schule, die zu Beginn der 1960er Jahre maßgeblich zur Entstehung der modernen Medienwissenschaften beigetragen hat und zu der Autoren wie Harold A. INNIS, Eric A. HAVELOCK, Jack GOODY, Marshall MCLUHAN, Walter J. ONG und Ian WATT gerechnet werden, verhalf einer Sichtweise zur Geltung, die die Struktur der griechischen Alphabetschrift mit der Entwicklung der abendländischen Rationalität in engen Zusammenhang rückte. Nur die Alphabetschrift mit ihrer einzigartigen Zergliederung der gesprochenen Sprache in Konsonanten und Vokale, also in atomare Einheiten, die unterhalb der Ebene der Artikulationseinheiten der gesprochenen Sprache liegt, erzeugt, so die These, ein äußerst flexibel handhabbares, technisches Medium, das Distanznahme, Reflexion und ein individuelles Gedächtnis erst ermöglicht. Diese These wurde bereits von Jack GOODY relativiert und in jüngerer Zeit als verkürzt und ethnozentrisch kritisiert (GROSSWILER 2004).

Quellen
  • ASSMANN, Aleida, und ASSMANN, Jan. „Schrift – Kognition – Evolution. Eric A. Havelock und die Technologie kultureller Kommunikation.“ In: HAVELOCK, Eric A., (Hrsg.). Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim 1990, 1–35.
  • GROSSWILER, Paul. „Dispelling the Alphabet Effect.” In: Canadian Journal of Communication and Journalism 29 (2004), 145–158.

3. Diskurs zu Schrift als differentielle und digitale Form

In einem durch Jacques DERRIDAS Grammatologie geprägten Diskurs zu Schrift als differentielle und digitale Form wird Schrift – teils fundamental, teils zeitdiagnostisch – als Form von Medialität betrachtet. DERRIDA verknüpfte mit dem Begriff Schrift das Konzept einer ‘Urschrift’, die als differenzielles Geschehen Denken, Geschichte, Identität erst hervorbringt. Er eröffnete damit einen metaphysikkritischen Diskurs, der Substanz und Präsenz durch den Rekurs auf Prozessualität und Differentialität zu unterlaufen suchte. Schrift wird hier mit der Bewegung eines, sich selbst entziehenden, konstituierenden Spiels oder generativen Mechanismus gleichgesetzt: „Schreiben heißt, ein Zeichen (marque) produzieren, das eine Art ihrerseits nun produzierende Maschine konstituiert, die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert wird, zu funktionieren und sich lesen und nachschreiben zu lassen.” (134) Mit Blick auf die atomare Grundstruktur von Schriften (als Struktur aus eindeutig bestimmten und eindeutig zu unterscheidenden Elementen (FISCHER 1997 ) wurde ‚Schrift’ zum Label für digitale Struktur überhaupt. Theoretiker der neuen Medien konnten daher Schriftlichkeit mit dem Operieren (digitaler) Maschinen identifizieren. So fordert etwa Vilém FLUSSER, „das Schreiben, dieses Ordnen von Zeichen, Maschinen [zu] überlassen“ (10) und Friedrich KITTLER diagnostiziert: „Heute … läuft menschliches Schreiben durch Inschriften, die nicht nur mittels Elektonenlithographie in Silizium eingebrannt, sondern im Unterschied zu allen Schreibwerkzeugen der Geschichte auch imstande sind, selber zu lesen und zu schreiben.“ Daher sei „mit der Miniaturisierung aller Zeichen auf molekulare Maße […] der Schreibakt selbst verschwunden“ (226).

Quellen
  • DERRIDA, Jacques. Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1972 (1966).
  • DERRIDA, Jacques. Grammatologie. Frankfurt a. M. 1983 (1967).
  • DERRIDA, Jacques. „Signatur. Ereignis. Kontext.“ In: DERS. Randgänge der Philosophie. Frankfurt a. M. u. a. 1976, 124–155.
  • FISCHER, Martin. „Schrift als Notation.“ In: KOCH, Peter, und KRÄMER, Sybille, (Hrsgg.). Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes. Tübingen 1997, 83–101.
  • FLUSSER, Vilém. Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt a. M. 1992.
  • KITTLER, Friedrich. „Es gibt keine Software.“ In: DERS. Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, 225–242.

4. Diskurs der symboltheoretischen Schriftbildlichkeitsforschung

Aus der Perspektive der symboltheoretischen Schriftbildlichkeitsforschung wird die landläufige Beschränkung von Schriften auf die Aufzeichnung gesprochener Sprachen als irreführend betrachtet: Die Verwendung von Schriften in Mathematik und Buchhaltung (schriftliches Rechnen; Bestandslisten), Musik (Notenschriften), Naturwissenschaften (Formelschreibweisen) und Informatik (Programmierung) sowie die Transformation und Analyse von Sprachen in der Verschriftlichung zeigt, dass das Medium Schrift in Beziehung zu unterschiedlichen Sachbereichen stehen kann – gesprochene Sprachen sind nur ein Anwendungsfeld von Schriften. Untersuchungen zu Kriterien, die eine Unterscheidung von Schriften von verwandten Phänomenen ermöglichen, ziehen bildliche, operative und semantische Aspekte von Schriften in Betracht (KOGGE/GRUBE 2005).

Quellen
  • KOGGE, Werner, und GRUBE, Gernot. „Der Begriff der Schrift und die Frage nach der Forschung in der Philosophie.“ In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1 (2007), 81–96.
  • KRÄMER, Sybille. „‚Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift.“ In: KRÄMER, Sybille, und BREDEKAMP, Horst, (Hrsgg.). Bild — Schrift — Zahl. München 2003.

5. Diskurs um Entstehung und frühe Erscheinungsformen von Schrift in den Altertumswissenschaften

Im Diskurs um Entstehung und frühe Erscheinungsformen von Schrift in den Altertumswissenschaften spielt die Unabhängigkeit von Schriften gegenüber gesprochenen Sprachen und ihr Verhältnis zu Bildern und Rechenoperationen eine entscheidende Rolle. Denn die ältesten bekannten Schriften dienten keineswegs zur Aufzeichnung von Sprachen, sondern der Buchhaltung in administrativen Kontexten (gemäß Stand der Forschung treten die ältesten Schriften im südlichen Mesopotamien am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. als Kombination von Zahlzeichen und Benennungen auf; die in diesen Dokumenten verwendeten Namen wurden auch in lexikalischen Listen verzeichnet). Sie stehen damit in Kontinuität zu vorgängigen Zähl- und Aufzeichnungssystemen. Die Adaption von Schriften zur Aufzeichnung gesprochener Sprachen bildet ein Thema der Untersuchung vielgestaltiger Transformationsprozesse, ebenso die Vorgänge der Ausbreitung, Übernahme und Anpassung an weitere Verwendungssysteme.

Quellen
  • CANCIK-KIRSCHBAUM, Eva. „Phänomene von Schriftbildlichkeit in der keilschriftlichen Schreibkultur Mesopotamiens.“ In: KRÄMER, Sybille, CANCIK-KIRSCHBAUM, Eva, und TOTZKE, Rainer, (Hrsgg.). Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012, 101–122.
  • NISSEN, Hans-Jörg, DAMEROW, Peter, und ENGLUND, Robert K. Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Berlin 1990.

Literatur zum Begriff

  • KOGGE, Werner, und GRUBE, Gernot. „Zur Einleitung: Was ist Schrift?“ In: GRUBE, Gernot, KOGGE, Werner, und KRÄMER, Sybille, (Hrsgg.). Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005, 9–21.
  • Ein Überblick zum einschlägigen Handbuch Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research, herausgegeben von Hartmut Günther und Otto Ludwig, Berlin/New York 1994–1996, findet sich hier.

Zitiervorschlag

Werner Kogge, „Schrift“, Version 1.0, Dienstag, 15. November 2016, ORGANON terminology toolbox, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

  • ORGANON terminology toolbox (von gr. ὄργανον: Werkzeug) ist ein Instrument zur Orientierung in der Landschaft interdisziplinär relevanter Begriffe und Theorien. Mit wenigen Blicken finden Sie hier einen Überblick über relevante Diskurse, Grundlagentexte und weiterführende Links.

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