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Begriff Gedächtnis

Gedächtnis

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht Freitag, 16. Dezember 2016
  • Zuletzt bearbeitet Dienstag, 10. Oktober 2017

Zum Wort

Das französische Wort Mémoire hat im Deutschen mit Gedächtnis (passiv, im Sinne eines Speichers) und Erinnerung (aktiver Prozess, an die Tätigkeit des Erinnerns geknüpft) zwei Bedeutungen. Die Verwendung dieser Begriffe wird im deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Kontext kontrovers diskutiert; teilweise wird Gedächtnis im Sinne einer „Fremd-Erinnerung“ verwendet (HIMMELMANN 2000, 57). Im Zusammenhang mit den französischsprachigen Arbeiten von Maurice HALBWACHS und Pierre NORA zeigt sich das Problem einer adäquaten sprachlichen Übersetzung von Mémoiremilieux de mémoire etc. ins Deutsche. [KSt]

Diskurse und Kontexte

1. Sozial- und kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung

Als Grundannahme der sozial- und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung kann gelten, dass das Gedächtnis Erinnerung erst ermöglicht. Um Erinnerung zu erzeugen, brauchen Menschen das Gehirn als organische Basis einer virtuellen und manifesten Infrastruktur, aber auch externe Erinnerungsspeicher. Erinnerbar ist, was im Austausch via Sprache, Zeichen, Geste etc. anderen mitteilbar ist. Erinnerung ist damit Form und Ausdruck menschlicher Kommunikation. Hierbei kann unterschieden werden zwischen individuellem und sozial-kollektivem Gedächtnis und – in zeitlicher Hinsicht – zwischen Erinnerung als (1) Primärerfahrung im Sinne einer Zeitzeugenschaft, (2) Öffentlicher Erinnerungskultur bzw. Kommunikativem Gedächtnis als mündlicher, gruppengebundener Überlieferung und (3) Geschichtswissenschaft (nach MOLLER 2010).

Quelle

2. Sozialkonstruktivistischer Diskurs nach Maurice Halbwachs

Der Soziologe Maurice HALBWACHS beschrieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus sozialkonstruktivistischer Sicht, wie individuelle Akteure ihre Vergangenheit wieder- und weitergeben und dabei verändern. Er verwandte hierfür den Begriff mémoire collective. Von der Vergangenheit bliebe nur, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“ (HALBWACHS 1925/1985, S. 390). Gedächtnis ist nach ihm also immer auch und zuerst ein soziales und aktuelles Phänomen.

Quellen
  • HALBWACHS, Maurice. Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a. M. 1985 [1925].
  • HALBWACHS, Maurice. Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1991 [1950].

3. Geschichtswissenschaftlicher Diskurs nach Pierre Nora

Der Historiker Pierre NORA entwickelte in den 1980er Jahren, zunächst anhand französischer Beispiele, das wirkmächtige Konzept der Erinnerungsorte. An bestimmten Orten oder historisch-sozialen Bezugspunkten kristallisiere sich das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe (für NORA vor allem der französischen Nation) aus. Sie seien notwendig, da es keine Erinnerungs-kulturen – franz.: milieux de mémoire – mehr gäbe. NORA unterscheidet ferner zwischen dem Gedächtnis, das Erinnerungen sakralisiere, und der Geschichtswissenschaft, die Erinnerungen systematisch „entzaubere“. Das Konzept wurde von STEIN-HÖLKESKAMP und HÖLKESKAMP auf die römische (2006) und griechische Antike (2010) übertragen.

Quellen
  • NORA, Pierre. Les Lieux de mémoire. 3 Bände. Paris 1984–1992.
  • STEIN-HÖLKESKAMP, Elke, und HÖLKESKAMP, Karl-Joachim, (Hrsgg.). Erinnerungsorte der Antike – Bd. 1: Die römische Welt. München 2006; Bd. 2: Die griechische Welt. München 2010.

4. Historisch-kulturwissenschaftliche Perspektive nach Aleida und Jan Assmann

Aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive fassen Aleida und Jan ASSMANN unter dem Begriff Kollektives Gedächtnis das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis zusammen. Während das alltagsnahe, gruppengebundene kommunikative Gedächtnis etwa 80 Jahre umfasst, schließt das kulturelle Gedächtnis nach A. und J. ASSMANN den Nachlass aller Schriften, archäologischen Artefakte und Relikte und auch das immaterielle Erbe der Menschheit ein. Träger der Vermittlung sind externe Speichermedien und kulturelle Praktiken. A. ASSMANN bezeichnet sie, anknüpfend an das „external symbolic storage system“ von Merlin DONALD (1991, 311), als Wissensspeicher. [KSt]

Quellen
  • ASSMANN, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2006.
  • ASSMANN, Jan. „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. In: Ders. und HÖLSCHER, Tonio, (Hrsgg.). Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 9–19.
  • DONALD, Merlin. Origins of the Modern Mind. Cambridge (Mass.) 1991.

5. Diskurs der jüngeren Geschichte und Holocaust-Forschung um Erinnerung, Tradition und Identität

Im Diskurs um Erinnerung, Tradition und Identität war die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte und insbesondere mit dem Holocaust ein wesentlicher Motor. In Deutschland, Österreich, aber auch anderen europäischen Ländern entstand mit der Frage nach der Involvierung der eigenen Gesellschaft eine neue Form gesellschaftlichen Erinnerns: das negative Gedenken an die eigene Schuld. Während das nationale Gedächtnis in der Regel auf eine positive Identitätsstiftung aus der Vergangenheit zielt (z. B. durch Bezugnahme auf die nationale Erfolgsgeschichte oder einen gemeinsamen Opferstatus), richtet sich das „Schuldgedächtnis“ auf im Namen des eigenen Kollektivs begangene Verbrechen und die „Frage individueller und kollektiver Mitverantwortung“ (nach UHL 2010).

Quelle
  • UHL, Heidemarie. „Warum Gesellschaften sich erinnern“. In: Erinnerungskulturen. Informationen zur politischen Bildung, Bd. 32. Hrsg. vom Forum Politische Bildung. Innsbruck u. a. 2010, 5–14.

6. Museumsbezogener Diskurs um Zeugnisse materieller Erinnerungskultur

Museen als Orte der Sammlung und Präsentation von Artefakten, archäologische Stätten und Baudenkmale sind als Zeugnisse materieller Erinnerungskultur ein wichtiger und zu bewahrender Teil des kulturellen Gedächtnisses. Entsprechend werden spezifische Diskurse in der Anthropologie, Museologie oder Archäologie geführt (s. MACDONALD / Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage). Auch in der Denkmalpflege wird über Erinnerung debattiert (s. MEIER und WOHLLEBEN 2000), doch erschwert das ausdifferenzierte kulturwissenschaftliche Themenfeld den breiten, kontinuierlichen Fachdiskurs (nach BINNEWERG 2013).

Quellen
  • BINNEWERG, Anke. „Menschen und Steine. Die Anwendbarkeit von Maurice Halbwachs‘ Thesen zu Erinnerung und Raum für die Denkmalpflege“. In: MEIER, Hans-Rudolf, SCHEUERMANN, Ingrid, et al. (Hrsgg.). Werte. Begründungen der Denkmalpflege. Berlin 2013, 90–99.
  • MACDONALD, Sharon, und Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage. https://www.euroethno.hu-berlin.de/de/carmah
  • MEIER, Hans-Rudolf, und WOHLLEBEN, Marion, (Hrsgg.). Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Zürich 2000.

Literatur zum Begriff

  • ERLL, Astrid. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung. Stuttgart 2011.
  • HIMMELMANN, Nikolaus. „Archäologie gleich Erinnerung?” In: MEIER und WOHLLEBEN (s. 1.6), 47–57.

Zitiervorschlag

Katharina Steudtner, „Gedächtnis“, Version 1.0, Freitag, 16. Dezember 2016, ORGANON terminology toolbox, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

  • ORGANON terminology toolbox (von gr. ὄργανον: Werkzeug) ist ein Instrument zur Orientierung in der Landschaft interdisziplinär relevanter Begriffe und Theorien. Mit wenigen Blicken finden Sie hier einen Überblick über relevante Diskurse, Grundlagentexte und weiterführende Links.

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