- Version 1.0
- Veröffentlicht Montag, 15. April 2019
- Zuletzt bearbeitet Donnerstag, 21. November 2019
Zum Wort
Der deutsche Begriff „Erzählung“ leitet sich vermutlich von der Tätigkeit des Zählens bzw. des Aufzählens (von Ereignissen, Begebenheiten) her.
Der im Englischen und Französischen gebrauchte Begriff „narration“ geht auf das Lateinische narratio zurück – abgeleitet von gnarus (bekannt, kundig, wissend).
Inhalt
- Diskurse und Kontexte
- 1. Aristotelischer Diskurs
- 2. Philosophischer Diskurs
- 3. Diskurs des narrativen Konstruktivismus
- 4. Literaturwissenschaftlicher Diskurs
- 5. Diskurs der strukturalistischen Narratologie
- 6. Narratologische Ansätze zu faktualen Erzählungen
- 7. Diskurs der Geschichtsschreibung
- 8. Diskurs der Sozialpsychologie
- 9. Diskurs der Wissenschaftstheorie
- Literatur zum Begriff
- Weiterführende Links
- Zitiervorschlag
- Metadaten
Diskurse und Kontexte
1. Aristotelischer Diskurs
In Anlehnung an die Poetik des ARISTOTELES fokussieren alle Annäherungen an den Erzählbegriff auf die temporale Struktur („Anfang-Mitte-Ende“) und die Verknüpfungsleistung von Erzählungen (das „Zusammensetzen der Geschehnisse“ (ARISTOTELES, Poetik 1450a)). Demnach sind Erzählungen mündliche oder schriftliche Darstellungen, die verschiedene Elemente (Personen, Dinge, Ereignisse, Räume, etc.) sinnvoll miteinander verknüpfen und zeitlich anordnen.
- ARISTOTELES. Poetik.
2. Philosophischer Diskurs
In der philosophischen Debatte variiert der ontologische Status der Erzählung. Eine Position geht von einem grundlegenden Zusammenhang von „Leben“ und „Erzählen“ aus und begreift das menschliche Leben selbst als Geschichte oder Erzählung. Der Mensch erscheint hier mithin als ein fundamental „in Geschichten verstrickt[es]“ Wesen.
- ARENDT, Hannah. Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München 2011, 213–234.
- SCHAPP, Wilhelm. In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt/Main 2012.
3. Diskurs des narrativen Konstruktivismus
Von der philosophischen Debatte lässt sich die Position des narrativen Konstruktivismus unterscheiden. Hier wird das Erzählen als (kognitiv verankerte) Struktur begriffen, der der Mensch Erfahrungen und Handlungen erst auferlegt, um diese in eine kohärente Ordnung zu überführen. Zwischen „Leben“ (bzw. „Geschehen“ und „Handeln“) und „Denken“ (bzw. Repräsentation) gibt es keine Kontinuität, sondern einen Bruch. Paul RICŒURS dialektisches Modell der „dreifachen Mimesis“ kombiniert beide Positionen: Die pränarrative Struktur (Präfiguration) wird auf der Ebene der Erzählung gebrochen und neu arrangiert (Refiguration) und wirkt ihrerseits auf Leben und Handeln zurück (Konfiguration).
- MINK, Louis O. „History and Fiction as Modes of Comprehension”. In: New Literary History 1 (1970), 541–558.
- RICŒUR, Paul. Zeit und Erzählung. 3 Bände. München 2007.
4. Literaturwissenschaftlicher Diskurs
Anders als in der Philosophie geht es in den Literaturwissenschaften um Erzählungen als eine spezifische Text- und Darstellungsform. In der klassischen Erzählforschung fungiert die „Mittelbarkeit“ als Konstituens von Erzähltexten: Eine Erzählung ist demnach eine Geschichte, die durch eine (von der konkreten Autorin bzw. vom Autor unterschiedene) Erzählinstanz vermittelt wird.
- LÄMMERT, Eberhard. Bauformen des Erzählens. Stuttgart 2004.
- STANZEL, Franz K. Theorie des Erzählens. Göttingen 2008.
5. Diskurs der strukturalistischen Narratologie
Demgegenüber wird „Erzählen“ in der strukturalistischen Narratologie als grundlegender sprachlicher Modus aufgefasst, der von anderen Modi oder Texttypen unterschieden werden kann: Im Unterschied zur Argumentation oder Deskription ist die Narration ein temporaler Darstellungsmodus und thematisiert immer Veränderungen (von Zuständen oder Situationen).
- BAL, Mieke. Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto 2009, 35–47.
- GENETTE, Gerard. Die Erzählung. Paderborn 2010.
6. Narratologische Ansätze zu faktualen Erzählungen
Narratologische Ansätze werden zunehmend auch auf faktuale Erzählungen angewandt. Darunter werden erzählende Texte verstanden, die auf die Vermittlung wahrer Sachverhalte abzielen und von den Rezipient*innen auch entsprechend verstanden werden (unabhängig davon, ob die dargestellten Inhalte auch tatsächlich wahr sind oder nicht).
- FLUDERNIK, Monika, FALKENHAYNER, Nicola, und STEINER, Julia, (Hrsgg.). Faktuales und fiktionales Erzählen. Band 1: Interdisziplinäre Perspektiven. Würzburg 2015.
- GENETTE, Gerard. Fiktion und Diktion. München 1992.
7. Diskurs der Geschichtsschreibung
Das klassische Beispiel faktualer Erzählungen stellt die Geschichtsschreibung dar, über deren Verhältnis zur Literatur seit der Antike diskutiert wird. Im Rückgriff auf literaturtheoretische Ansätze hat die Historiographiegeschichte jene Strategien herausgearbeitet, mit denen in historischen Darstellungen Ereignisse narrativ aufeinander bezogen und zu bedeutungsvollen Geschichten verknüpft werden. Während Hayden WHITE die narrative Verknüpfung an apriorische Strukturen koppelt und die Grenze zwischen literarischen und historiographischen Erzählungen verwischt, insistieren jüngere Arbeiten auf der Differenzierung faktualen und fiktionalen Erzählens und betonen die Variabilität historiographischer Erzählmuster.
- RÜTH, Axel. Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung. Berlin 2005.
- WHITE, Hayden. Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore 1973.
8. Diskurs der Sozialpsychologie
Ein anderes Anwendungsfeld stellt die Sozialpsychologie dar. Hier haben sich Ansätze einer narrativen Psychologie etabliert, die auf den Akt des Erzählens und seine Bedeutung bei der Repräsentation und Verarbeitung menschlicher Erlebnisse fokussieren: Es ist die narrative Repräsentation, die es erlaubt, ein auf der individuellen wie kollektiven Ebene besonders disparat und sinnlos erfahrenes Geschehen als eine sinnhafte Geschichte zu erfassen.
- SARBIN, Theodore, (Hrsg.). Narrative Psychology. The Storied Nature of Human Conduct. New York 1986.
- STRAUB, Jürgen, (Hrsg.). Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt/Main 1998.
9. Diskurs der Wissenschaftstheorie
Auf einer sehr viel allgemeineren Ebene setzen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an und beschäftigen sich mit der epistemischen Funktion von Erzählungen. Hier wird die narrative Verknüpfung als eine Form des Weltzugangs oder gar der Welterzeugung begriffen, so dass der Erzählung nicht erst bei der Repräsentation, sondern bereits bei der Erzeugung von Wissen eine konstitutive Rolle zukommt.
- ENGLER, Balz, (Hrsg.). Erzählen in den Wissenschaften. Positionen, Probleme, Perspektiven. 26. Kolloquium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Fribourg 2010.
- KLEIN, Christian, und MARTÍNEZ, Matías, (Hrsgg.). Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart 2009, 1–13.
Literatur zum Begriff
- MEUTER, Norbert. „Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften“. In: JÄGER, Friedrich, und STRAUB, Jürgen, (Hrsgg.). Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart/Weimar 2004, 140–155.
- STROHMAIER, Alexandra, (Hrsg.). Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld 2013.
- THOMÄ, Dieter. Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Frankfurt/Main 2007.
Weiterführende Links
Saupe, Achim, und Wiedemann, Felix. „Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft“. Version 1.0, 28.01.2015.
In: Docupedia – Zeitgeschichte.Graduiertenkolleg „Faktuales und Fiktionales Erzählen“
Zitiervorschlag
Felix Wiedemann, „Narration / Erzählung“, Version 1.0, Montag, 15. April 2019, ORGANON terminology toolbox, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.
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